19. August 2001

TIBET INFORMATION NETWORK

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Teil 1

Ein wichtiges tibetisch-buddhistisches Institut durch Ausweisung von Nonnen und Studenten in seiner Existenz bedroht

Viele Hunderte von tibetischen Nonnen, etliche Mönche und chinesische Schüler des Buddhismus wurden gezwungen, das Klosterinstitut Serthar in Kardze (chin. Ganzi), Präfektur Sichuan, eines der wichtigsten noch übriggebliebenen Zentren des tibetischen Buddhismus in Tibet, zu verlassen, nachdem ein Heer von bewaffneten Volkspolizisten und Gruppen von Beamten dort eintraf, um Pekings Befehle durchzusetzen. In den letzten zwei Wochen aus China mitgebrachte Photos zeigen, wie die Hütten der Nonnen von Serthar abgerissen werden, um sie am Zurückkehren zu hindern (www.tibetinfo.net/tibet-file/religion).

Khenpo Jigme Phuntsog, der oberste buddhistische Lehrmeister von Serthar, der bereits bei schlechter Gesundheit war, liegt krank danieder, seit die Ausweisung begann. Während er schon seit mehreren Monaten unter strenger Bewachung stand und sein Quartier nicht verlassen durfte, steht sein jetziger Aufenthaltsort nicht fest - einigen Berichten zufolge wird er in einer Klinik außerhalb des Tales medizinisch betreut. Weiteren Berichten zufolge verließen viele der Nonnen das Institut - trotz des Druckes der Obrigkeit, ohne die von ihnen geforderte Unterschrift unter ein Dokument zur Schmähung Dalai Lama zu setzen. Einige Nonnen sollen wegen des Vorgehens der Behörden auch einen Nervenzusammenbruch erlitten haben, und einer tibetischen Quelle zufolge drohten einige noch in Serthar verbliebene Mönche und Nonnen, sich eher das Leben zu nehmen als das Institut zu verlassen.

Der monastische Komplex von Serthar, der 1980 von Khenpo Jigme Phuntsog zum Zweck der Wiederbelebung der buddhistischen Gelehrsamkeit und Meditation gegründet wurde, beherbergte die größte Ansammlung von Mönchen und Nonnen auf tibetischem Boden - schätzungsweise 6-7.000 Personen, einschließlich etwa eintausend chinesischer Studenten, wobei zu Zeiten religiöser Feste und besonderer Belehrungen noch viel mehr Anhänger Khenpos zusammenströmten. Die Behörden machten bereits früher Anstalten, die Zahl der Mönche und Nonnen zu reduzieren, aber ihre Absicht erwies sich wegen der unregelmäßigen Ausbreitung des Komplexes und der großen Fluktuation an Studenten, Mönchen und Nonnen als schwierig durchzuführen. Im Juni dieses Jahres trafen hochrangige Funktionäre aus Peking, darunter Politoffiziere von der Vereinten Arbeitsfront, sowie andere regionale Kader in dem Institut ein, um die Reduzierung der Gesamtzahl auf 1.000 Mönche und 400 Nonnen vorzunehmen und die Aufsicht über den Abbruch der Behausungen zu führen. Die zu dem Institut führenden Straßen wurden gesperrt und das ganze Areal abgeriegelt, ehe mit dem Abbruch begonnen wurde. Von der Zerstörung wurden wohl in erster Linie die auf den unteren Abhängen des entlegenen Larung Tals befindlichen Hütten betroffen, wo die meisten der Nonnen wohnten, die etwa die Hälfte der Bewohner von Serthar ausmachten. Aus Tibet verlautet, daß seit Mitte Juni über eintausend Behausungen zerstört worden seien.

Als erstes kamen die chinesischen Schüler des Buddhismus an die Reihe, und fast 1.000 chinesische Studenten sollen in den vergangenen 2 Monaten zum Verlassen gezwungen worden sein. Die zweite Zielscheibe der Behörden war die starke und in sich geschlossene Gemeinschaft tibetischer Nonnen in Serthar. Obwohl man auch von der Ausweisung einiger Mönche hörte, bilden die Nonnen dennoch die Mehrzahl der Vertriebenen. Einer Quelle zufolge wurde inzwischen wahrscheinlich die überwiegende Mehrzahl der Nonnen von Serthar, annähernd 3.000, gezwungen, sich zu entfernen. Viele dieser vertriebenen Nonnen, deren Hütten abgerissen wurden, leiden nun bestimmt große Not. "Viele von ihnen haben keinen Ort, wohin sie sich wenden könnten", meint eine Quelle, die letztes Jahr Serthar besuchte und noch im Kontakt mit dem Institut steht. "Einige von ihnen waren so arm und hatten so wenig zu essen, daß sie in Serthar Fastenklausuren unternahmen. Nun müssen sie wahrscheinlich noch viel mehr leiden." Einige Nonnen sollen einen Nervenzusammenbruch erlitten und in Depression verfallen sein, seit die Ausweisung begann, und einer zuverlässigen Quelle zufolge wurde einigen von ihnen auf Anweisung der lokalen Beamten sogar die ärztliche Behandlung verweigert.

Es heißt, daß die Offiziellen den Mönchen und Nonnen bei der Ausweisung Dokumente mit drei Punkten zum Unterschreiben vorlegten: Verurteilung des Dalai Lama, Verpflichtung nicht zurückzukehren und Versprechen, die Richtlinien und Politik der chinesischen Regierung zu respektieren. Viele Nonnen wären gegangen, ohne das Dokument zu unterschreiben.

Ein jetzt im Exil lebender Mönch aus dieser Gegend erzählte TIN, die Behörden hätten den Monat Oktober als Frist für den Abschluß der Aktion gesetzt und hätten auch bestimmt, daß in Zukunft keine Studenten von außerhalb der Provinz Sichuan mehr in Serthar sein dürften: "Die Offiziellen erklärten den Mönchen und Nonnen, daß der Beschluß in drei Etappen durchgeführt werde - Informierung, Überredung zum freiwilligen Verlassen des Instituts, Durchsetzung des Beschlusses mit staatlicher Gewalt. Sie drohten damit, daß Insassen, die sich abweisend und unkooperativ gebärden, verhaftet und ihre Unterkünfte abgebrannt oder abgebrochen würden. Es ist unklar, wie die Behörden die Quote von 1.400 auswählen werden, weil es viel mehr Studenten aus Sichuan gibt als die genehmigte Zahl". Viele Mönche und Nonnen hätten gesagt, sie würden sich eher das Leben nehmen als das Institut verlassen.

Teil 2

Große Sorge um den angesehenen tibetisch-buddhistischen Lehrer

Bei einem früheren Besuch der Beamten in diesem Jahr in Serthar soll Khenpo Jigme entgegnet haben, er hätte die Studenten ja nicht nach Serthar eingeladen, daher stehe es ihm nicht an, sie nun zum Verlassen aufzufordern. Die jetzt im Exil befindliche tibetische Quelle erzählte TIN, die Offiziellen hätten, als sie nun wieder nach Serthar kamen, "Jigme Phuntsog bedrängt, er solle die Initiative ergreifen und die Studenten dazu bringen, den Komplex des Instituts vor Ablauf der Frist (Oktober) zu verlassen. Diese Forderung setzte Khenpo Jigme jedoch körperlich und psychisch so zu, daß er bald darauf krank wurde". Khenpo Jigme ging es schon einige Jahre lang gesundheitlich nicht gut; er hat grauen Star, ist halbblind und kann nicht ohne gestützt zu werden gehen".

Der Befehl für die Ausweisungsaktion scheint von hoher Ebene der CCP zu stammen, mit Unterstützung der Provinzregierung in Sichuan. Was die genauen Gründe der Regierung für ihre Mißbilligung von Serthar (in Chinesisch als Wumin bekannt) sind, weiß man nicht. Unter der Führung von Khenpo Jigme, eines sowohl von Tibetern als auch chinesischen Buddhisten verehrten charismatischen Lehrmeisters, hatte das Serthar Institut wegen seiner strikten Konzentration auf das Studium des Buddhismus und die Praxis des Dharma Berühmtheit erlangt. Indem er sich aus allen politischen Kontroversen heraushielt, soll es Khenpo Jigme gelungen sein, eine harmonische Beziehung sowohl zu den Provinz- als auch den Lokalbehörden aufrechtzuerhalten. Es heißt, selbst einige chinesische Kader hätten bescheinigt, daß Serthar eine "patriotische" Institution sei. In den vergangenen Monaten hätte Khenpo Jigme an die Regierung appelliert, den religiösen Glauben des Volkes zu respektieren, so wie es die Verfassung Chinas vorschreibt.

Ein buddhistischer Gelehrter aus dem Westen, der Serthar besucht hatte, meinte TIN gegenüber: "Serthar ist einfach kein politisierter Ort. Es ist eine Stätte für echte Schüler des Dharma und zieht als solche gebildete Schüler aus ganz China und Tibet an." Ein anderer westlicher Buddhist, der Khenpo Jigme kennt, kommentierte: "Khenpo Jigme ist einer jener seltenen Menschen, die ihre Kraft aus einer gelebten Moral und nicht aus politischer Autorität schöpfen. Seine Mission ist eindeutig die Verbreitung des Dharma. Ich erinnere mich, wie er mit offensichtlicher Freude und Ehrfurcht über seine Pilgerfahrt 1987 zu dem Wutai Shan Berg in China zusammen mit seinen tibetischen und chinesischen Anhängern sprach."

Teil 3

Chinesische Buddhisten in Serthar

Buddhistische Studenten aus China wurden als erste zum Verlassen aufgefordert, als die Kader im Frühjahr kamen. Ein Chinese, der zu dieser Zeit in Serthar studierte, berichtete vor zwei Wochen einem westlichen Journalisten, die Beamten hätten inmitten einer Vorlesung allen chinesischen Studenten erklärt, daß es nun höchste Zeit für sie sei, nach Hause zurückzukehren. Die Räumung des Instituts sei wegen der "schlechten sanitären Bedingungen" erforderlich geworden.

Der tibetische Mönch aus Serthar, der unlängst im Exil eintraf, äußerte TIN gegenüber, einer der Gründe für das Mißfallen der Behörden sei wohl der Mischmasch aus verschiedenen Nationalitäten in dem Institut gewesen. "In Serthar sind eben Studenten aus so verschiedenen Gegenden wie Taiwan, Hongkong, diversen chinesischen Provinzen, der Inneren Mongolei und der Autonomen Region Tibet (TAR). Die Behörden glauben, diese ethnische Mischung könnte eine potentielle Quelle der Spannung sein." Ein hoher tibetisch-buddhistischer, im Westen lebender Rinpoche äußerte TIN gegenüber: "Die Chinesen behaupten, sie wollten die Einheit unter den verschiedenen ethnischen Gruppen fördern und Harmonie schaffen. Aber in Wirklichkeit wollen sie gar nicht, daß die chinesischen Bürger über die tibetische Kultur, über den Glauben und die Bestrebungen der Tibeter die Wahrheit erfahren. Die meisten der in Serthar studierenden Mönche aus China waren gebildet und kamen aus der Stadt, nicht vom Land - also genau die Leute, von denen die Regierung nicht will, daß sie vom tibetischen Buddhismus und tibetischen Anschauungen beeinflußt werden."

Khenpo Jigme legte immer großen Wert darauf, sowohl chinesische als auch tibetische Studenten in Serthar zu lehren, einem Institut, das 1987 sieben Jahre nach seiner Gründung von dem 10. Panchen Lama, als eine buddhistische Akademie bescheinigt wurde. Im selben Jahr gab Khenpo Jigme für chinesische, tibetische und mongolische Studenten Belehrungen auf dem Berg Wutai, einer buddhistischen Pilgerstätte in Shaanxi, China, und 1988 verbrachte er auf Einladung des Panchen Lama zwei Monate an der Buddhistischen Höheren Akademie in Peking. David Germano, ein amerikanischer Akademiker der Universität Virginia, der zwischen 1990 und 1992 mehrere Male Serthar besuchte, schrieb in einem Aufsatz: "Nicht nur gibt es chinesische Mönche und Nonnen, die in Khenpo Jigmes Golog Zentrum wohnen und chinesische Laienbuddhisten, die regelmäßig dorthin wallfahren, sondern, wie ich hörte, wird Khenpo bei seinen Besuchen in Chengdu regelrecht bedrängt von chinesischen Buddhisten oder einfach nur von Neugierigen, die seinen Segen oder seine Ratschläge erbitten."

Teil 4

Nonnen vertrieben und ihre Behausungen zerstört

Die Nonnen von Serthar, die in einem Kloster unter der Leitung von Khenpo Jigmes Nichte, der 36-jährigen Jetsun Muntso, lernen, widmen sich religiösen Studien und Meditationen und dürfen den Titel "Khenpo" führen, der dem "Geshe" Titel in der Gelugpa Schule des Buddhismus und der Doktorwürde an westlichen Universitäten entspricht. Khenpo Jigme ist überzeugt, daß die Ausbildung von Nonnen wegen des relativen Mangels an religiösen Einrichtungen für Frauen in der Gegend besonders wichtig für Serthar ist. 1991 wurde die Versammlungshalle in dem Institut derart gebaut, daß Nonnen und Mönche Khenpo Jigmes Belehrungen gleichzeitig lauschen konnten.

Mönche und Nonnen in Serthar kamen gewöhnlich selbst für ihren Lebensunterhalt auf, obwohl einige ärmere Studenten auch einen bescheidenen Zuschuß bekamen. Khenpo Jigme soll auch einen Hilfsfonds für arme chinesische Studenten eingerichtet haben, die eine besonders weite Anreise zu dem Institut hatten.

Teil 5

Eine Wiederbelebung heruntergekommener buddhistischer Praktiken

Der 68-jährige Khenpo Jigme wurde als Knabe als Reinkarnation von Lerab Lingpa (1856-1926), einem bedeutenden Nyingma Lehrer des 13. Dalai Lama, identifiziert. Obwohl er während der Kulturrevolution in den 60-er und 70-er Jahren als ein Klassenfeind ausgemacht wurde, konnte er in den entlegenen und isolierten Gegenden von Kham, die heute der Provinz Sichuan einverleibt sind, sein Leben fristen. In der Periode der Liberalisierung, die auf die Kulturrevolution folgte, gründete Khenpo Jigme 1980 das buddhistische monastische Zentrum und Nonnenkloster Larung Gar in dem entlegenen Tal von Larung ("Gar" bezeichnet auf Tibetisch eine religiöse Ansiedlung im Unterschied zu einem offiziellen Kloster), das sich etwa 15 km südlich der Ortschaft Serthar (chin. Seda) befindet. Die Niederlassung begann in formloser und traditioneller Weise mit annähernd 100 Anhängern, welche sich in der Nähe von Khenpo Jigmes Haus ansiedelten. Die Gemeinde wuchs, indem durch Mundpropaganda viele religiöse Praktizierende angezogen wurden, die ohne formelle Mitgliedschaft kommen und gehen konnten, wie sie wollten, vorausgesetzt sie hielten sich an die monastischen Regeln. David Germano schreibt, daß nur Leuten, die wichtige religiöse Gelübde gebrochen hatten - etwa jene, die ihre Lehrer während der Kulturrevolution körperlich mißhandelten - die Erlaubnis, in Serthar zu wohnen und zu lernen, verweigert wurde.

Die Gemeinschaft weitete sich schnell aus. Ende der Achtziger bekam das Institut und das Nonnenkloster einen Zuschuß für elektrischen Strom von der Lokalregierung. Khenpo Jigme baute eine enge Beziehung zu den Distriktbehörden auf und spielte gelegentlich die traditionelle Lama-Rolle eines Vermittlers in politischen Disputen.

Mönche, Nonnen und gelehrte Buddhisten kamen gewöhnlich für unbestimmte Zeit nach Larung Gar (Serthar), ohne ihre monastische Bindung an ihre Klöster aufzuheben, wonach sie dann gewöhnlich in ihre eigenen Klöster zurückkehrten, um dort ihr erworbenes Wissen weiterzugeben. Khenpo Jigme ist ein Nyingma Lama, der bekannt ist für seine konfessionsübergreifende Haltung - so erteilte er nach allen vier Schulrichtungen des tibetischen Buddhismus (Nyingma, Kagyu, Sakya und Gelugpa) Belehrungen und Einweihungen. Sowohl Mönche als auch Nonnen müssen einen strengen Lehrplan traditionellen akademischen Studiums einhalten, dessen Ziel der Erwerb des "Khenpo" Grades ist. Germano zufolge schlossen in dem ersten Jahrzehnt der Existenz des Instituts rund 100 Personen mit dem "Khenpo" Titel ab, die meisten von ihnen junge Männer zwischen 20 und 30. Einige kehrten in ihre eigenen Klöster zum Unterrichten zurück, andere blieben in dem Zentrum, um selbst fortgeschrittene Lehrer zu werden oder weitere Studien zu betreiben, während noch andere von Khenpo Jigme in Klöster geschickt wurden, in denen besonderer Mangel an guten Lehrern bestand.

"Die Entwicklung eines rigorosen und qualifizierten Studienprogramms in Larung und in den anderen Lehranstalten in Osttibet, die er in den 80-er Jahren gründete, stand für Khenpo Jigphun an erster Stelle,", schreibt Germano. "Khenpos Wiederbelebung des daniederliegenden buddhistischen Systems der Erziehung (des tibetischen Geistes) war mehr als bemerkenswert, und seine ökumenische Betonung auf monastisch-ausgerichteter Ethik getrennt von politischem Aktivismus, bot in der Volksrepublik China ein mächtiges tibetisch-religiöses Muster zum Überleben, das sich scharf von dem politischen Aktivismus der Mönche und Nonnen in Zentraltibet abhebt." Die jetzt in Serthar vorgenommenen Ausweisungen stellen eine Bedrohung für die Existenz des Instituts als eines der führenden Zentren Tibets für das Studium und die Praxis des Buddhismus dar.

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